Montag, 30. Juli 2012

Ana's erster Brief

Erlaube mir, mich vorzustellen. Mein Name - oder wie mich die sogenannten Ärzte nennen - ist Anorexia. Anorexia Nervosa ist mein vollständiger Name, aber du kannst mich Ana nennen. Hoffentlich werden wir gute Freundinnen.Deine Freunde kennen dich nicht. Sie sind nicht ehrlich. Früher, als die Unsicherheit an dir genagt hat und du sie gefragt hast: ,,Sehe ich... fett aus?" und sie antworteten: ,,Oh nein, natürlich nicht!" wusstest du, dass sie lügen. Nur ICH sage dir die Wahrheit. Deine Eltern... lass uns nicht davon reden!!! Du weißt, dass sie dich lieben und auf dich achten, aber sie sind deine Eltern und deshalb müssen sie so handeln. Ich erzähle dir jetzt mal ein Geheimnis: Tief in deren Innerem sind sie enttäuscht von dir. Aus ihrer Tochter ist ein fettes, faules Mädchen geworden, dass all das, was es hat, nicht verdient hat. Aber ich bin gerade dabei, das zu ändern. Ich erwarte viel von dir. Du darfst nicht mehr viel essen. Ich fange langsam an: Reduzierung der Fettaufnahme, lesen der Nährwertangaben, kein Junk Food mehr und so weiter.


Für eine Weile werden die Aufgaben recht simpel sein. Aber es wird nicht lange dauern, da werde ich dir sagen, dass das nicht genug ist. Ich werde von dir erwarten, die Kalorienzufuhr zu verringern und gleichzeitig mehr Übungen zu machen. Ich werde dich an deine Grenzen treiben.


Schon bald werde ich immer bei dir sein. Ich bin da, wenn du morgens aufwachst und zur Waage rennst. Die Zahlen werden beides - Freund und Feind. Und mit rasenden Gedanken betest du, dass sie niedriger sind als gestern Morgen.


Ziemlich bald werde ich dir nicht nur sagen, was du mit Essen machen sollst, sondern auch was du die GANZE Zeit machen sollst. Lächle und nicke. Zeige dich von deiner guten Seite. Schlage auf diesen fetten Bauch, verdammt; Gott bist du eine fette Kuh!!!


Ich zwinge dich, Models aus Modemagazinen anzustarren. Ich lasse dich erkennen, dass du nie wie sie sein kannst. Du wirst immer fett und nie so schön wie sie sein. Wenn du in den Spiegel schaust, werde ich dir das Bild verzerren. Ich werde dir Fettleibigkeit und Scheußlichkeit zeigen. Ich werde dir einen Sumo-Ringer zeigen, wo in Wirklichkeit ein hungerndes Kind ist. Aber du musst das glauben, denn wenn du die Wahrheit kennen würdest, könntest du wieder anfangen zu essen und unsere Beziehung würde zerbrechen.


Ich zwinge dich in`s Badezimmer, auf deine Knie, du starrst ohne Gefühl in die Kloschüssel. Deine Finger werden in deinen Rachen gesteckt und nicht ohne eine große Menge Schmerz wird dein Essen rauskommen. Wieder und wieder wird das wiederholt, bis du Blut und Wasser spuckst und du weißt, dass alles raus ist. Wenn du aufstehst, wird dir schwindelig sein. Werde nicht ohnmächtig! Stehe aufrecht! Du fette Kuh, du verdienst es, Schmerzen zu haben.


Vielleicht entscheide ich mich bald anders, um dich von dem Gefühl des Ertappens zu befreien. Vielleicht bringe ich dich dazu, Abführmittel zu nehmen und du wirst bis in die frühen Morgenstunden auf dem Klo sitzen, mit einem drückenden Gefühl in dir. Oder vielleicht bringe ich dich dazu, dich selbst zu verletzen, deinen Kopf vor eine Wand zu schlagen, bis du schreckliche Kopfschmerzen bekommst. Ritzen ist genauso effektiv. Ich will, dass du dein Blut siehst, wie es deinen Arm runter läuft, und in diesem Bruchteil einer Sekunde wirst du merken, du verdienst ihn, egal welchen Schmerz ich dir gebe.


Gedanken der Wut, Traurigkeit, Niedergeschlagenheit und Einsamkeit können sich verziehen, denn ich fülle deinen Kopf mit dem Kalorienzählen. Ich vernichte den Kampf, um mit anderen Kindern deines Alters Zeit zu verbringen. Denn jetzt bin ich deine einzige Freundin.






Mit freundlichen Grüßen.






Ana

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